HaftungsrechtBefunderhebungsfehler erst bei unterlassener Befundung trotz klinischer Verschlechterung
Die Frage, ob im Zusammenhang mit radiologischen Untersuchungen Diagnose- oder Befunderhebungsfehler gemacht wurden, tritt immer wieder auf und wird häufig vor Gericht beantwortet. Im Fall der hüftbezogenen Schmerzsymptomatik einer jungen Patientin wurde die Frage verneint, da aus Sicht des Gerichts weder die Auswahl der radiologischen Untersuchungen noch die Diagnosen auf vorwerfbaren Fehlinterpretationen basierten (Oberlandesgericht [OLG] Dresden, Urteil vom 29.03.2022, Az. 4 U 980/21).
von Rechtsassessor
Vincent Holtmann, Voß.Partner, Münster, voss-medizinrecht.de
Sachverhalt
Die Klägerin befand sich wegen zunehmender Hüftschmerzen im Januar 2014 in stationärer Behandlung in der beklagten Klinik. Dort wurde nach Durchführung einer Sonografie, einer Laboruntersuchung sowie einer MRT-Untersuchung eine Synovialitis und ein Gelenkerguss des rechten Hüftgelenks diagnostiziert. Etwa vier Monate später war die Patientin erneut bei der beklagten Klinik auf der Grundlage der Diagnose einer juvenilen idiopathischen Arthritis in stationärer Behandlung. Bei einer in diesem Zusammenhang vorgenommenen Sonografie-Untersuchung der Hüft- und Kniegelenke zeigte sich nach wie vor ein Gelenkerguss in der rechten Hüfte.
Einige Wochen später wurde die Klägerin schließlich erneut akut wegen erheblicher Beschwerden in den Hüftgelenken vorstellig. Hier nun ergab eine MRT-Untersuchung des Beckens den Verdacht auf eine Epiphyseolysis capitis femoris lenta (ECF) beidseits. Die daraufhin durchgeführten Röntgenuntersuchungen nach Lauenstein ergaben letztlich den Nachweis eines beidseitigen Abkippens bzw. Abrutschens des Schenkelhalses gegenüber dem Hüftkopf. Die Klägerin wurde daraufhin operativ mit DET-Schrauben versorgt.
In ihrer u. a. auf Schmerzensgeld gerichteten Klage vor dem Landgericht Leipzig erhob die Patientin insbesondere den Vorwurf, die Ärzte hätten bei der ersten Untersuchung im Januar 2014 aufgrund einer Fehlinterpretation der Bildgebung eine fehlerhafte Diagnose gestellt und dadurch die zutreffende Diagnosestellung und Behandlung verzögert. Die Klinikärzte seien nach der ersten MRT-Untersuchung auch verpflichtet gewesen, wahlweise ein Kontroll-MRT oder eine Röntgendiagnostik durchzuführen. Insoweit habe die Beklagte es versäumt, notwendige Befunde zu erheben. Ihr, der Klägerin, wäre bei sachgerechtem Vorgehen eine Verzögerung des Heilungszeitraums erspart geblieben. Diese Vorwürfe hielt die Klägerin nach Klageabweisung durch das Landgericht im Wesentlichen auch vor dem OLG Dresden aufrecht.
Entscheidungsgründe
Doch auch die Berufung blieb für die Patientin erfolglos. Das OLG kam hier auf Grundlage eines Sachverständigengutachtens zu dem Ergebnis, dass weder ein Diagnose- noch ein Befunderhebungsfehler festzustellen sei (siehe auch „Diagnoseirrtum oder Befunderhebungsfehler? Darauf kommt es für Radiologen an“ in RWF, Nr. 07/2020). Dabei setze die Wertung einer objektiv unrichtigen Diagnose als Behandlungsfehler etwa eine vorwerfbare Fehlinterpretation erhobener Befunde voraus. Eine Vorwerfbarkeit sei aufgrund häufig auftretender Überschneidungen in der Symptomatik verschiedener Krankheitsbilder sowie aufgrund der Komplexität und Eigenart eines jeden menschlichen Organismus jedoch nur in Ausnahmefällen anzunehmen. Dagegen liege ein Befunderhebungsfehler dann vor, wenn der Arzt die gebotenen Befunde gar nicht erst erhebe.
Vorliegend seien jedoch mit der Synovialitis und der juvenilen idiopathischen Arthritis vertretbare Verdachtsdiagnosen gestellt worden. Der in der primären Sonografie gefundene Erguss am rechten Hüftgelenk habe sich auch in der MRT-Bildgebung bestätigt und sei auch mit dem von der Patientin beschriebenen Schmerzbild in Einklang zu bringen gewesen. Im MRT sei zwar auf einer Ebene eine ganz leichte, minimale Verschiebung des Femurköpfchens zu sehen gewesen, die auf eine beginnende bzw. gering ausgeprägte ECF habe hinweisen können. Da das Abrutschen jedoch nur gering ausgeprägt gewesen und eine Verschiebung des Femurköpfchens nur nach hinten, nicht jedoch auch nach unten gegeben gewesen sei, sei auch eine ergänzende Röntgenuntersuchung nach Lauenstein medizinisch nicht notwendig gewesen. Dies gelte auch im Hinblick auf den zweiten stationären Aufenthalt in der beklagten Klinik, da sich zu diesem Zeitpunkt aufgrund der Sonografie und dem klinischen Bild keine Verschlechterung gezeigt habe. Eine zusätzliche Bildgebung wäre dem Gericht zufolge generell erst dann geboten gewesen, wenn sich das klinische Bild der Patientin verschlechtert oder sich die Verdachtsdiagnose nicht bestätigt hätte. In jedem Fall wäre die Feststellung der Indikation für jede Art von strahlenbelastender Bildgebung stets im Einzelfall von radiologischer Seite zu prüfen gewesen. Ein derartiger Anlass war demzufolge jedoch erst bei der letztmaligen Vorstellung der Patientin aufgrund akuter Beschwerden gegeben. In diesem Rahmen konnte schließlich auch die finale und objektiv zutreffende ECF-Diagnose gestellt werden.
Fazit |
Da die primär gestellte Diagnose über den Zeitraum der Behandlung bis zur klinischen Verschlechterung nicht unvertretbar gewesen sei (kein Diagnosefehler), seien auch keine weiteren Befunderhebungen zu veranlassen gewesen (kein Befunderhebungsfehler). Der Beklagten könne daher insgesamt kein Vorwurf gemacht werden. Es zeigt sich erneut: Die Abwägung zwischen den mit einer Bildgebung verbundenen Risiken (Stichwort „Strahlenbelastung“) einerseits und der Gefahr, einen reaktionspflichtigen Befund gar nicht oder verspätet zu erheben, kann sich auf einem schmalen Grat bewegen. Eine fundierte Interpretation bereits vorliegender Befunde sowie eine stetige Beobachtung des klinischen Bildes können hierbei richtungsweisend sein. Vorwerfbare Fehlinterpretationen der Bildgebung bilden in der Gerichtspraxis hingegen eher die Ausnahme. |
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