Interdisziplinäre Kooperation„In der Rechtsmedizin entwickelt sich die Radiologie zu einem Standardverfahren!“
„Radiologie der Gewalt“ lautet der Titel eines Praxishandbuchs, das 2021 erschienen ist. Untertitel: Einführung in Methodik und Begutachtung für Radiologen und Rechtsmediziner. Prof. Dr. med. univ. Kathrin Yen ist Ärztliche Direktorin des Instituts für Rechtsmedizin und Verkehrsmedizin des Universitätsklinikums Heidelberg. Sie gehört zum Herausgeberteam und ist Mitautorin des Buchs. Ursula Katthöfer (textwiese.com) sprach mit ihr.
Redaktion: Wie wichtig ist die Radiologie, um eine Gewalttat forensisch zu rekonstruieren?
Prof. Dr. Kathrin Yen: Sie ist inzwischen sehr bedeutsam. Begonnen hat es mit dem Nachweis von Projektilen, die man mit radiologischen Verfahren schneller erkennen kann als in einer Autopsie. Um Knochenbrüche detailliert zu analysieren, ist das CT herausragend geeignet. Es liefert die wertvolle Information, um welches Bruchsystem es sich handelt. Das ist wichtig, um die Ursache einer Verletzung zu klären. Auch Gase und Luft im Körper lassen sich radiologisch auf einen Blick nachweisen. Die Obduktion ist da unterlegen, zumal Luft in die Gefäße eindringt, sobald wir sie öffnen.
Redaktion: Könnte es sogar sein, dass die radiologisch-forensische Untersuchung die Obduktion verdrängt?
Prof. Dr. Kathrin Yen: Die Bildgebung würde bei Fragestellungen wie nach Verkehrsunfällen, Sturzereignissen oder auch nach einer Herzbeuteltamponade im Grunde genommen bereits heute ausreichen, um die wesentlichen Befunde festzustellen. Aber bei einer Obduktion werden immer auch Proben für toxikologische oder histologische Untersuchungen entnommen, um beispielsweise zu erkennen, ob jemand vor dem Verkehrsunfall Medikamente oder Alkohol zu sich genommen hat. Als Standardverfahren vor einer Obduktion hat sich die forensische Bildgebung inzwischen aber bereits fest etabliert. Mancherorts wird sie als „Screeningtool“ eingesetzt und je nach dessen Ergebnis wird eine anschließende Obduktion durchgeführt oder nicht.
Redaktion: Rechtsmedizin und Radiologie sind aber sehr unterschiedlich. Nehmen sie die gleichen Perspektiven ein?
Prof. Dr. Kathrin Yen: Die klinische Radiologie ist wie alle klinischen Fächer in die Zukunft ausgerichtet. Sie soll dazu beitragen, den Patienten zu heilen. Wir Rechtsmediziner schauen in die Vergangenheit und klären, wie ein Befund überhaupt entstanden ist. Das erfordert eine andere Diagnostik. Für uns spielt zum Beispiel die Bildgebung von Weichteilen eine ganz entscheidende Rolle. Nach einem Sturz aus der Höhe suchen wir beispielsweise im Unterhautfettgewebe Anprallstellen. So können wir rekonstruieren, ob das Opfer auf den Füßen landete, auf dem Rücken oder dem Hinterkopf. Für die Radiologie ist das Unterhautfettgewebe hingegen kaum von Interesse.
Redaktion: Wo sind forensische Bildgebung und Diagnostik gesetzlich verankert?
Prof. Dr. Kathrin Yen: Die postmortale forensische Bildgebung findet sich bisher nicht in den Gesetzen wieder, ist aber als Untersuchungsmethode in Todesermittlungsverfahren inzwischen anerkannt. Das Problem der Strahlenbelastung gibt es bei Verstorbenen ja nicht mehr, weshalb sich hieraus keine Einschränkungen ergeben. Bei lebenden Personen regeln §§ 81a und c der Strafprozessordnung die Untersuchung. Ein bildgebendes Verfahren kann angeordnet werden, wenn es hilft, den Fall zu klären und kein Nachteil für die Gesundheit zu befürchten ist. Auch im aufenthaltsrechtlichen Kontext gibt es eine gesetzliche Legitimation für die Durchführung bildgebender Verfahren für Altersschätzungen. In Fällen ohne entsprechende Anordnung – dies betrifft z. B. praktisch alle Fälle von häuslicher Gewalt und Kindesmisshandlung – müssen betroffene Personen der Untersuchung zustimmen. Wie die forensische Bildgebung künftig besser in den gesetzlichen Regularien abgebildet werden kann, ist derzeit in Abklärung.
Redaktion: Wie eng arbeiten Sie mit Polizei und Staatsanwaltschaft zusammen?
Prof. Dr. Kathrin Yen: In Todesermittlungsverfahren arbeiten wir im Auftrag der Staatsanwaltschaft und auch die Zusammenarbeit mit der Polizei ist nicht nur im Krimi, sondern auch in der Realität in vielen Fällen sehr eng. Nach Gewalt an Lebenden untersuchen wir aber häufig auch „verfahrensunabhängig“. Diese Menschen kommen unabhängig von einer Anzeige in unsere Gewaltambulanz. Wir sichern dort die Spuren der Gewalt und klären, was jemandem zugestoßen ist. Falls es im weiteren Verlauf doch zu einer Anzeige und einem Strafverfahren kommt, soll die Beweislage so gut wie möglich sein. Das erhöht die Chance auf eine Verurteilung und stärkt die Opfer in den Verfahren.
Ein zweiter wichtiger Grund für diese Untersuchungen ist die Prävention: Mit forensischen Untersuchungen können wir Gewaltopfer erkennen und damit weiterer Gewalt vorbeugen. Nach dem neuen § 27 SGB V haben Opfer von Gewalt inzwischen sogar einen Rechtsanspruch auf eine verfahrensunabhängige Beweissicherung. Die Krankenkassen müssen die Kosten übernehmen. Ich halte es für sehr positiv, dass Gewalt mehr und mehr als relevantes Thema anerkannt wird. Wir müssen davon ausgehen, dass in Deutschland jede dritte Frau im Laufe ihres Lebens Opfer von Gewalt wird. Einer Studie aus dem Jahr 2012 zufolge liegen die Folgekosten allein durch Kindesmisshandlung in Deutschland pro Jahr bei 11,2 Milliarden Euro.
Da viele Patienten heute noch keinen Zugang zu einer Gewaltambulanz haben, werten wir in solchen Fällen oft nachträglich klinische bildgebende Befunde aus. Die Bildgebung ist dann oft die einzige objektive Information, die wir zu den erlittenen Verletzungen haben. Je früher wir beim Verdacht auf eine Gewalttat einbezogen werden und mit der Radiologie zusammenarbeiten, desto besser. Wir können dann dafür sorgen, dass auch die forensisch wichtigen Befunde erhoben werden und beispielsweise nach einem Schütteltrauma eine MRT-Ganzkörperaufnahme des Säuglings erfolgt, um auch Begleitverletzungen durch das Zupacken zu sehen. Das sind wichtige Beweise, die helfen, den Vorfall zu klären und das Kind zu schützen.
Redaktion: Angenommen, eine Radiologin oder ein Radiologe soll ein Rechtsgutachten erstellen. Worauf ist zu achten?
Prof. Dr. Kathrin Yen: Sobald forensische Fragen, beispielsweise zu Länge und Richtung eines Stichkanals oder der Heftigkeit eines Angriffs auftreten, sollten Radiologen diese nur gemeinsam mit Rechtsmedizinern beantworten. Die forensische Diagnostik erfordert Spezialwissen, das in den klinischen Fächern nicht vorhanden ist. Wird man als Sachverständiger vor Gericht geladen oder zu einem Gutachten aufgefordert, ist es wichtig, die Rechtsgrundlagen der Sachverständigentätigkeit zu kennen. Das Gutachten selbst sollte immer so geschrieben sein, dass es auch medizinische Laien verstehen. Dazu muss man die deutsche Sprache, nicht die medizinische Fachsprache verwenden. Eine Fraktur ist ein Knochenbruch. Gut verständlich zu schreiben, ist häufig eine große Herausforderung.
Redaktion: Eines Ihrer Themen im Buch ist die Geschichte der forensischen Radiologie. Wo liegen die Anfänge?
Prof. Dr. Kathrin Yen: Die Röntgenstrahlung wurde 1895 entdeckt. Schon drei Jahre später wurde der erste Tote untersucht, um ihn zu identifizieren. Man hat dann relativ bald begonnen, Projektile und andere Fremdkörper zu suchen. Auch die Altersschätzung spielt schon eine ganze Weile eine Rolle. In den 1990-er Jahren nahm die forensische Radiologie dann richtig Fahrt auf. Anfangs ging es vor allem um postmortale Anwendungen, damals wurde das Projekt „Virtopsy“ in Bern gestartet und hat gezeigt, welche herausragenden Möglichkeiten sich aus der forensischen Nutzung von CT und MRT ergeben. Ich selbst habe dann in Graz ein Forschungsinstitut für klinisch-forensische Bildgebung gegründet. Und vor zwei Jahren eröffneten wir an unserem Institut das erste FoRCe (Forensic Radiology Center), eine Fachabteilung für forensisch-radiologische Begutachtungen.
Redaktion: Welche Rolle spielen heute Bilder, die vor Jahren oder sogar Jahrzehnten gemacht wurden?
Prof. Dr. Kathrin Yen: Bei Cold Cases ist es immer einen Versuch wert, alte Bilder mit einem „rechtsmedizinischen Auge“ nachzubefunden. Die Qualität der Bilder war vor 10, 15 oder 20 Jahren ja oft schon sehr gut.
Redaktion: Die Radiologie ist sehr digitalisiert und arbeitet zunehmend mit KĂĽnstlicher Intelligenz (KI). Wie nutzt die forensische Radiologie diese Technologie?
Prof. Dr. Kathrin Yen: KI ist auch für uns sehr spannend. Wir führen derzeit das telemedizinische Projekt ARMED durch, das gerade mit dem Probebetrieb beginnt. Dazu kooperieren wir mit anderen Kliniken, z. B. in Ravensburg. Es geht um Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch. Während Kinderärzte an den externen Standorten ein Kind untersuchen, tragen sie eine Datenbrille. Die Daten werden in Echtzeit an uns übertragen, sodass ein rechtsmedizinischer Begleiter den Fall quasi mit den Augen des untersuchenden Arztes sieht, mit diesem kommunizieren und die forensischen Diagnosen stellen kann. In dem Projekt nutzen wir nicht nur die Möglichkeiten der Augmented Reality, sondern wollen die Diagnostik künftig auch mit KI unterstützen. Dann könnte der Arzt in Ravensburg schon durch das System die Information erhalten, wo verdächtige Befunde vorliegen und dass er noch einmal genau auf diese Stelle hinschauen sollte.
Redaktion: Wie kommt es, dass erst jetzt ein Praxishandbuch erscheint?
Prof. Dr. Kathrin Yen: Die „Gewaltmedizin“ wird gern verdrängt, weil im Umgang mit diesen Patienten viel Hilflosigkeit und Unsicherheit herrscht. Doch die hohen Fallzahlen und die Folgekosten von Gewalt zeigen die enorme Relevanz dieses Themas. Ich hoffe, dass unser Buch zu mehr Aufmerksamkeit führt und auch dazu, Gewaltopfern zu helfen und Menschen besser zu schützen. Vielleicht kann es sogar zu weniger Gewalt in der Gesellschaft beitragen.
- P. A. Glemser, A. Krauskopf, H.-P. Schlemmer, K. Yen (Hrsg.): Praxishandbuch „Radiologie der Gewalt“; 480 S., 800 Abb.; Thieme Verlag; ISBN: 9783132213715; 199,99 Euro.
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