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Start-up

01.09.2024Ausgabe 9/20246min. Lesedauer

Seit 2016 verleihen das Handelsblatt und die Techniker Krankenkasse den Health-i Award für digitale Innovationen. Im Jahr 2023 ging der 2. Platz an das Start-up Neo Q, dessen Software Radioreport ausgezeichnet wurde. Dr. med. Igor Toker ist Facharzt für Radiologie und Chief Medical Officer (CMO) des Unternehmens Neo Q. Ursula Katthöfer (textwiese.com) fragte ihn, was Radioreport kann.

Redaktion: Das Diktiergerät soll wegen Radioreport bald der Vergangenheit angehören. Was leistet Ihre Software?

Dr. Toker: In der Radiologie stehen wir vor drei Herausforderungen, die kein Diktiergerät lösen kann: Personalmangel, Qualität und begrenzte Maschinenlesbarkeit der Befunde. Die Nachfrage nach radiologischen Untersuchungen steigt, die Scanner werden immer schneller, doch der Personalmangel in Praxen, Kliniken und akademischen Abteilungen bleibt. Das wirkt sich auf die Qualität aus. Studien zeigen, dass die Fehlerquote in radiologischen Berichten hoch ist. Retrospektive Untersuchungen zufolge liegt sie bei 25 % bis 30 %. Außerdem sind viele radiologische Berichte nicht vollständig strukturiert, was die maschinelle Verarbeitung und Analyse erschwert.

Um diese Herausforderungen zu meistern, haben wir basierend auf einer Technologie, die wir Guided Reporting nennen, eine Software entwickelt. Sie soll es angesichts des demografischen Wandels weniger Radiologen ermöglichen, mehr Menschen zu diagnostizieren. Sie spart Zeit, hilft Fehler zu vermeiden, ist maschinenlesbar und stellt sowohl Ärzte als auch Patienten zufrieden, da sie zwei Berichte ausgibt: Einen für den Facharzt, der sich für die Pathologie oder den Zustand eines Organs interessiert, und einen für den Patienten, der wissen möchte, was er hat und welches der nächste Schritt ist.

Redaktion: Was verändert sich am Workflow, wie bedienen Radiologen die Software?

Dr. Toker: Einen Bericht zu diktieren, dauert im Schnitt 20 Minuten. Die Software hingegen bietet eine intuitive Benutzeroberfläche, die speziell für die präzise Eingabe von Befunden entwickelt wurde. Anstelle von Freitext oder Diktaten arbeiten Radiologen mit einem checklistenähnlichen Interface, das die Eingabe von Pathologien ähnlich standardisiert wie z. B. WHO-Checklisten die Vorbereitung von Operationen. Die Radiologen werden Schritt für Schritt durch den Befundprozess geleitet, sie haben quasi einen virtuellen Interviewpartner. Das Interface haben wir gemeinsam mit einer Designagentur entwickelt, die dafür den Red Dot Award gewann. Das bestätigt die Benutzerfreundlichkeit.

Redaktion: Lassen Sie uns das an einem Befund durchspielen, z. B. am akuten Außenmeniskusriss, der im Knie-MRT erkannt wurde.

Dr. Toker: Der Radiologe schaut seine Bilder über das User-Interface an. Ihm wird Seite für Seite eine Liste von Fragen angeboten, angefangen mit der Lokalisation des Meniskusrisses über Anamnese, Technik inklusive Kontrastmittel bis zu den Auswirkungen auf Knochen, Bänder, Kapsel, Menisken etc. Unten im Bild läuft eine Uhr, die anzeigt, wie schnell der Befund erstellt wird. Obwohl es sehr schnell geht, ist das Arbeiten ruhig.

Redaktion: Was ist, wenn Radiologen doch gerne einen Freitext formulieren würden?

Dr. Toker: Manchmal ist ein persönlicher Kommentar wichtig: Ein Vermerk zu einem Gespräch, das bereits mit einem Orthopäden stattgefunden hat, eine Empfehlung für das Tumorboard oder ein Hinweis auf eine seltene Erkrankung können sinnvoll sein. Deshalb haben wir den hybriden Ansatz gewählt. Freitext ist ebenso möglich wie das Hochladen von Referenzbildern. Wir sehen in der Praxis, dass Radiologen in der Anfangsphase noch zu 70 % die Freitextmöglichkeit nutzen. Ist der Workflow eingespielt, reduziert sich der Anteil auf 10 %.

Redaktion: Sie werben damit, dass am Ende ein standardisierter Befund mit maschinenlesbaren, also KI-tauglichen Inhalten steht. Wie geht es mit den Daten weiter?

Dr. Toker: Alle Entscheidungen aus der Befunderstellung werden in einer Datenbank gespeichert. Diese Daten sind nicht nur als fertige Befunde, sondern auch als Rohdaten verfügbar. Sie können z. B. für Studien, das Trainieren von KI und die Evidenz im eigenen Haus verwendet werden. Gleichzeitig kooperieren wir mit mehreren KI-Herstellern als AI-Enabler. Wir können die Entscheidung der KI direkt in unseren Entscheidungsbaum integrieren. So beschleunigen wir nicht nur den Befundprozess, sondern reduzieren auch die zum Teil sehr anstrengende geistige Routinearbeit von Radiologen wie z. B. bei einer MS-Diagnostik. Außerdem beinhaltet die Software die automatische ICD-10-Codierung der Diagnosen. Auch das senkt die Fehlerquote, denn derzeit gibt es eine große Differenz zwischen dem, was verschlüsselt wird, und dem, was Patienten tatsächlich haben. Mit unserer Software reduzieren sich Diskussionen mit dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen. Übrigens bleiben die Daten immer im Besitz unserer Kunden und Patienten, Datenschutz und Datensicherheit sind uns wichtig.

Redaktion: Wie profitieren MTR und Patienten?

Dr. Toker: Die Patienten erhalten den Bericht schnell und verständlich. Als ich noch klinisch in der Notfalldiagnostik gearbeitet habe, habe ich mir oft gewünscht, dem Patienten etwas mitgeben zu können, das er zu Hause nachlesen kann. Gemeinsam mit der LMU und der Universität Oldenburg arbeiten wir nun an Befunden, die dem Patienten verständlich erklären, was bei der Untersuchung festgestellt wurde, wie schwerwiegend der Befund ist und welche nächsten Schritte empfohlen werden. Das fördert Zufriedenheit und Therapieadhärenz. Auch vereinfacht es die Kommunikation zwischen Patienten und MTR, wenn für alle nachvollziehbar ist, was der Patient hat.

Redaktion: Ein Start-up zu gründen, bringt finanzielle Risiken mit sich. Wie ist es gelungen, Investoren zu finden?

Dr. Toker: Als Neo Q vor sieben Jahren u. a. von Prof. Dr. Alexander Huppertz gegründet wurde, setzte das Unternehmen den Fokus auf eine Software von Radiologen für Radiologen im deutschsprachigen Raum. Das Produkt war also sehr auf Ärzte fokussiert, weniger auf den Markt. So ein Fokus ist anfangs wichtig, um sich nicht zu verzetteln. Ein Family Office und mehrere Privatinvestoren standen hinter dem Start-up, man kannte sich privat. Das war ein eher untypischer Verlauf eines Investments. Der Vorteil war, dass Finanznotwendigkeiten schnell besprochen werden konnten und wenig Zeit und Energie für Finanzierungsrunden aufgewendet werden mussten.

Andererseits entstand durch die Nähe ein hoher Erklärungsbedarf z. B. dazu, dass eine Software nie zu Ende entwickelt ist. Vor zwei Jahren steuerten wir nach und prüften, ob das Produkt auch international am Markt besteht. Inzwischen haben wir Kunden in den USA, den Emiraten und Großbritannien. Das derzeitige Feedback an den Märkten freut die Investoren.

Redaktion: Wie ist Ihre persönliche Motivation? Was hat Sie als Radiologe bewogen, in die Wirtschaft zu wechseln?

Dr. Toker: Ich habe meine medizinische Karriere in einer Hamburger Notaufnahme als Assistenzarzt der Unfallchirurgie und Orthopädie begonnen und später den Facharzt für Radiologie gemacht. Oft war ich sehr unzufrieden, weil Zeit für die Patienten fehlte. Die Bürokratie nimmt mittlerweile mehr als 30 Prozent des Arbeitstages ein. Stundenlanges Sitzen für Formulare, Briefe und Anträge ist besonders ermüdend, wenn wir uns klar machen, dass wir als private Consumer täglich mit modernen Softwarelösungen umgehen, im Gesundheitswesen aber noch wie in den 1990-er Jahren arbeiten. Für mich war es eine Chance, an einem Produkt zu arbeiten, das die bürokratische Routinearbeit reduziert und mehr Zeit für den Patientenkontakt schafft. Die medizinischen Fähigkeiten eines Arztes können in vielen Branchen einen großen Unterschied machen.

Redaktion: Welches Wissen haben Sie zusätzlich zu Ihrer medizinischen Ausbildung erworben?

Dr. Toker: Ich habe viel über Führung, agile Entwicklung, Management, Nachhaltigkeit, Partnerschaften, Vertrieb und wirtschaftliche Grundlagen gelernt. Zudem habe ich ein berufsbegleitendes postgraduales generalistisches Management-Studium (MBA) begonnen. Auch für ein Start-up tätig zu sein, erweitert den Horizont. Ich arbeite mit Menschen aus Softwareentwicklung, Management, Finanzen, Design und Vertrieb zusammen, habe Kunden und Kulturen aus verschiedenen Ländern schätzen gelernt.

Redaktion: Was empfehlen Sie Kollegen aus der Ärzteschaft, die ebenfalls mit einem Job in der Wirtschaft liebäugeln?

Dr. Toker: Man muss sich bewusst machen, dass ein Wechsel in die Wirtschaft keine klinische Tätigkeit mehr ist. Ich bin eher ein Abenteuertyp, der ins kalte Wasser springt. Es macht mir Freude, morgens aufzuwachen und zu erfahren, dass es bald nach Singapur geht. Doch muss jeder für sich abwägen, ob diese Freiheit zu den eigenen Lebensumständen passt. Diese Tür zu öffnen und es auszuprobieren, kann ich jedem empfehlen.

Weiterführender Hinweis
  • Wie die Radioreport-Software unterstützt, zeigt dieses Video (online unter iww.de/s11436).

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