Interview„Ich hoffe auf viele KI-Algorithmen in den Praxen in fünf Jahren!“
In Deutschland sterben pro Jahr etwa 10.000 Menschen an einem rupturierten Bauchaortenaneurysma. Das gemeinsame Projekt DeepRAY der Universitätsmedizin Mannheim (UMM) und der Mediri GmbH soll helfen, lebensbedrohliche Erkrankungen der Bauchschlagader sicherer zu erkennen und schneller behandeln zu können. Dabei wird Künstliche Intelligenz (KI) eingesetzt. Dr. Johann Rink, Assistenzarzt an der Klinik für Radiologie und Nuklearmedizin und Leiter der Forschungsgruppe KI-gestützte Entscheidungssysteme an der UMM, erläutert das Projekt im Gespräch mit Ursula Katthöfer (textwiese.com).
Redaktion: Bauchaortenaneurysmen bleiben häufig unentdeckt, weil sie keine Symptome verursachen. Wie kommt es dennoch zur CT-Untersuchung?
Dr. Rink: Das CT eignet sich gut, um alle Strukturen des Bauchraums zu beurteilen. Die Patienten erhalten aus unterschiedlichen Gründen ein Abdomen-CT, etwa zur Untersuchung bestimmter Organe oder Blutgefäße. Dem Bauchaortenaneurysma gilt nicht die Hauptaufmerksamkeit, es wird in vielen Fällen als Nebenbefund erkannt.
Redaktion: In welchem Umfang setzen Sie Daten für das KI-Projekt ein?
Dr. Rink: Die CT-Geräte werden schneller und besser, die Strahlendosis wird immer weiter reduziert, die Zahl der Untersuchungen steigt. Abdomen-CT-Untersuchungen gehören zum Alltag vieler Kliniken, insgesamt sind es bei uns im stationären Setting, bei ambulanten Patienten und in der Notaufnahme mehr als 50 Stück pro Tag. So entsteht eine große Datenmenge, die wir für das Training von KI nutzen. Daten aus anderen Quellen nehmen wir nicht, da wir das Projekt DeepRAY bewusst auf unser Setting zugeschnitten haben.
Redaktion: Welche Ziele verfolgen Sie mit dem auf zwei Jahre angelegten Projekt?
Dr. Rink: Mit DeepRAY möchten wir das Potenzial von KI am Bauchaortenaneurysma verstehen. Würde KI im klinischen Alltag helfen und wenn ja, in wie vielen Fällen? Wir wünschen uns, dass negative Befunde mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit sicher und automatisiert durch KI-Algorithmen ausgeschlossen werden können. KI ist nicht voreingenommen. Sie lässt sich nicht durch einen Hauptbefund, z. B. in der Leber, ablenken. Nach den jetzigen Ergebnissen erwarten wir, dass negative Befunde mit einer Wahrscheinlichkeit von über 95 Prozent richtig erkannt werden.
Redaktion: Was ist mit den übrigen fünf Prozent?
Dr. Rink: Stand der KI-Anwendung heute ist, dass jedes durch KI befundete Bild noch einmal von einem Radiologen betrachtet wird. Selbst wenn bei 95 Prozent einige Fälle durchrutschen könnten, wäre dieser hohe Anteil eine enorme Verbesserung gegenüber der durchschnittlichen menschlichen Leistung, wie sie in vielen externen Studien untersucht wurde. Dann könnten Bauchaortenaneurysmen, die zusätzlich gefunden werden, rechtzeitig leitliniengerecht therapiert werden. Ist der Befund kritisch, kann der Patient sofort an einen Spezialisten aus der Gefäßchirurgie oder der interventionellen Radiologie übergeben werden.
Eine Strategie im Umgang mit den nicht erreichten 100 Prozent könnte ein Schwellenwert sein. Rutschen bei 95 Prozent nur diejenigen Befunde durch, bei denen das Aneurysma minimal erweitert ist und die daher nicht behandlungsbedürftig sind? So eine Schwelle könnte festgelegt werden. Wichtig ist, dass keine kritischen Aneurysmen übersehen werden, sondern dass die Rate an berichteten Nebenbefunden, die tatsächlich klinisch relevant sind, zunimmt.
Redaktion: Lässt ein Projekt wie dieses, das im Universitätsklinikum auf eine bestimmte Patientengruppe fokussiert, sich auf Niederlassungen übertragen?
Dr. Rink: Unser Patientengut an der UMM ist nicht repräsentativ, viele von unseren Patienten sind eher schwer erkrankt. Deshalb wollen wir die von uns entwickelte KI später auch im ambulanten Setting testen, z. B. in einer angeschlossenen radiologischen Praxis. Wir möchten prüfen, ob das Produkt auch an anderen Geräten und anderen Patienten funktioniert. Mir ist grundsätzlich sehr wichtig, dass wir das viele Wissen und die Spezialexpertise, die sich an den Universitätskliniken konzentrieren, in die Breite bringen. Meine Hoffnung ist, dass durch uns trainierte Algorithmen helfen, dieses Wissen in der Breite anzuwenden, ohne dass wir persönlich anwesend sein müssen.
Redaktion: Die Software soll modular erweitert werden. Wo könnte sie im klinischen Alltag noch angewendet werden?
Dr. Rink: Es ist sinnvoll, dass ein KI-Algorithmus nicht nur eine, sondern weitere Pathologien wie andere Aussackungen oder Gefäßverschlüsse verstehen kann. Denn wir möchten ja grundsätzlich eine umfassende Lösung für niedergelassene Radiologen und Radiologinnen. Möglich wäre z. B. auch, Gefäßverengungen oder Infektherde in den Aufnahmen zu finden, die es im hektischen Alltag nicht bis in den Befund schaffen. So entsteht eine doppelte Kontrollinstanz. Je mehr der Algorithmus kann, desto praxisnaher ist er.
Redaktion: Partner des UMM ist ein privatwirtschaftliches Unternehmen, das die Plattform zur Echtzeit-Ausführung der Algorithmen steuert. Ein Modell der Arbeitsteilung für die Zukunft?
Dr. Rink: Das kann attraktiv sein. Stärken der Klinik sind das Patientengut und die Hoheit über die eigenen Daten. Die pure Menge und die Vielfalt der Daten sind sehr wertvoll. Doch ein Unternehmen kann die KI-Algorithmen zertifizieren lassen und sie an potenzielle Kunden vertreiben. Es hat einen anderen betriebswirtschaftlichen Fokus als ein Krankenhaus. Deshalb ist es sinnvoll, eine Public Private Partnership (PPP) aufzubauen. Viele Unternehmen aus den USA und Großbritannien fassen in Deutschland und der EU wegen der vielen Regularien rund um die Zertifizierung nicht Fuß. Da ist Aufholbedarf gegeben, die Gesetze müssen angepasst werden. Das geschieht hoffentlich in Zukunft. Umso wichtiger ist, dass wir europäischen Unternehmen die Chance geben, diese Märkte zu besetzen.
Redaktion: Noch fördert das Land Baden-Württemberg das Projekt DeepRAY. Auf die Medizinische Fakultät Mannheim entfällt ein Anteil von rund 337.000 Euro. Wie realistisch ist, dass die Diagnostik per KI in die Regelversorgung übernommen wird?
Dr. Rink: Das seriös einzuschätzen, ist schwierig. Noch herrscht für Hersteller und Entwickler zu viel Unklarheit. Doch glaube ich, dass wir am Beginn einer neuen Ära stehen und die EU die Regularien einfacher gestalten wird. Ich hoffe, dass in fünf Jahren viele KI-Algorithmen in den Praxen angekommen sein werden.
Redaktion: Vielen Dank!
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