Wachstum von Altpraxen: Aufbauarbeit muss sich sofort lohnen

von RA Dr. Thomas Willaschek, Dierks + Bohle Rechtsanwälte, www.db-law.de

Weitet eine Praxis ihre Patientenzahlen aus, wirkt sich diese Anstrengung aufgrund der Regelleistungsvolumina (RLV) nicht schon im aktuellen Quartal, sondern erst ein Jahr später bei der Bildung der neuen RLV aus. Ausnahmen finden sich in den Honorarverteilungsregeln zumeist nur für neu niedergelassene Ärzte. Doch gerade für unterdurchschnittlich abrechnende Alt-Praxen ist das Jahr bis zur RLV-Erhöhung oft eine Durststrecke. Das Hessische Landessozialgericht (LSG) verlangt in einer aktuellen Entscheidung Erleichterung für solche Alt-Praxen (Urteil vom 22.2.2012, Az: L 4 KA 6/11). 

Der Fall: Praxiswachstum fast ohne Honorarzuwachs

Die klagende radiologische Gemeinschaftspraxis war 2004 gegründet worden und bestand seit dem Quartal I/2008 in unveränderter personeller Zusammensetzung. Sie wandte sich gegen die RLV-Zuweisung für das Quartal III/2009. Die KV Hessen hatte der Praxis auf Basis des Quartals III/2008 und der dort zur Abrechnung gebrachten knapp 100 Behandlungsfälle ein RLV von knapp 6.000 Euro zugewiesen. Tatsächlich aber rechnete die Praxis im Quartal III/2009 für 371 Behandlungsfälle ein Honorarvolumen von über 40.000 Euro ab. Dafür erhielt sie jedoch nur eine Vergütung von insgesamt gut 9.000 Euro. 

Im Widerspruchsverfahren verwies die KV auf die Regelung im Honorarverteilungsvertrag (HVV), welche weitgehend wortgleich die Beschlüsse des Erweiterten Bewertungsausschusses wiedergab: Das RLV einer Praxis ergab sich demzufolge aus der Multiplikation des zum jeweiligen Zeitpunkt gültigen KV-bezogenen arztgruppenspezifischen Fallwerts und der Fallzahl des Arztes im Vorjahresquartal. 

Sowohl im Beschluss des Erweiterten Bewertungsausschusses als auch im HVV fehlte eine Regelung, die unterdurchschnittlich abrechnenden Praxen ein darüber hinausgehendes Wachstum bis zum Fachgruppendurchschnitt ermöglichte. Praxen, die im Vorjahresquartal bereits zugelassen waren, konnten im Bereich der KV Hessen daher nur die seinerzeit abgerechnete Fallzahl erhalten – unabhängig davon, ob und in welchem Umfang diese unter der durchschnittlichen Fallzahl lag. Folglich war eine Steigerung des RLV im Folgejahr nur dann möglich, wenn im aktuellen Quartal die Fallzahl im Vergleich zum Vorjahrsquartal über das zugewiesene RLV hinaus gesteigert und damit in Kauf genommen wurde, dass diese Leistungen nur zu einem Bruchteil honoriert wurden. 

Die Entscheidung: Keine ­unbezahlte Vorarbeit

Das Sozialgericht in der Vorinstanz wie auch das LSG in der Berufungsinstanz hielten das Verfahren der KV Hessen für rechtswidrig. Der Vertragsarzt bzw. die Gemeinschaftspraxis seien gezwungen, zunächst Leistungen nahezu vergütungslos zu erbringen, um im Folgejahr die Vergütung steigern zu können. Je geringer die RLV-relevante Fallzahl dabei sei, umso höher sei die Summe der Leistungen, die bis zum Erreichen der Fallzahl des Fachgruppendurchschnitts ohne nennenswerte Vergütung erbracht werden müsse. 

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) reiche es aber nicht aus, dass es dem einzelnen Vertragsarzt mit unterdurchschnittlichem Umsatz „überhaupt“ ermöglicht werde, den durchschnittlichen Umsatz der Fachgruppe zu erreichen. Erforderlich sei vielmehr eine „effektive“ Möglichkeit zum Erreichen des Durchschnittsumsatzes, die nicht kontinuierlich sein müsse. „Nicht effektiv“ in diesem Sinne sei es, wenn die Steigerungsmöglichkeit nahezu ohne tatsächliche gezahlte Vergütungen vonstattengehe. Den Praxen sei vielmehr eine „honorarbegrenzungsfreie“ Fallzahlsteigerung bis zum Fachgruppendurchschnitt innerhalb von fünf Jahren zu ermöglichen. 

Die Argumentation der KV, sie sei an Beschlüsse des Erweiterten Bewertungsausschusses gebunden und habe diese vollständig im Honorarverteilungsvertrag umgesetzt, überzeugte das Gericht nicht. Alle Regelungen seien an den rechtlichen Vorgaben und an der BSG-Rechtsprechung zu messen. 

In der Konsequenz musste der HVV der KV Hessen im Jahr 2009 um eine Regelung ergänzt werden, die es unterdurchschnittlich abrechnenden (Alt-)Praxen ermöglichte, die Honorare innerhalb von fünf Jahren begrenzungsfrei auf den Fachgruppendurchschnitt zu steigern. Innerhalb ihres Gestaltungsspielraums haben die Vertragspartner – damals KV und Krankenkassenverbände – die Rechtsauffassung des LSG zu berücksichtigen. Dieses gibt zu bedenken, dass Honorarbegrenzungen durch praxisbezogene RLV umso weniger zu rechtfertigen sind, je deutlicher der konkrete Praxisumsatz von dem durchschnittlichen Praxisumsatz der Fachgruppe abweicht. 

Nach Auffassung des Gerichts liegt nahe, zugunsten von Vertragsärzten und Praxen, die lediglich einen geringen Prozentsatz des Durchschnittsumsatzes der Fachgruppe erreichen, gänzlich auf Honorarbegrenzungsregelungen zu verzichten. Es biete sich als „erforderliche Minimalregelung“ an, die Fallzahlen des jeweiligen Vorjahresquartals bei der Errechnung des RLV angemessen aufzustocken, um das Anwachsen der Praxisumsätze innerhalb von fünf Jahren auf den Fachgruppendurchschnitt zu ermöglichen. 

Urteil stärkt Rechtsposition von Altpraxen

Die Rechtsprechung des LSG Hessen bezieht sich zwar konkret auf RLV im Jahr 2009, lässt sich jedoch in ihren Grundsätzen problemlos auch auf andere Honorarverteilungsregelungen übertragen. Interessant ist sie vor allem deshalb, weil sie die BSG-Rechtsprechung zur Wachstumsmöglichkeiten von sogenannten „Altpraxen“ konkretisiert: Im Ergebnis soll jede unterdurchschnittlich abrechnende Praxis den Fachgruppendurchschnitt binnen fünf Jahren ohne unbezahlte Vor­arbeit erreichen können. 

Praxishinweis: Unterdurchschnittlich abrechnende Praxen mit Wachstumswillen und -potenzial, deren Vergütung durch Budgetierung beschnitten wird, sollten gegen die RLV-Zuweisung Widerspruch einlegen. Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens bzw. in einem gesonderten Antragsverfahren sollte unter Hinweis auf die LSG-Rechtsprechung eine Aufstockung der jeweiligen Budgetierung beantragt werden.