Praxisbesonderheit auch bei fachgruppentypischer Leistung möglich

von RA, FA für MedR, Mediator Dr. Tobias Scholl-Eickmann, Kanzlei am Ärztehaus, Dortmund, www.kanzlei-am-aerztehaus.de

Das Sozialgericht (SG) Marburg hat mit Urteil vom 23. November 2011 festgestellt, dass auch im Rahmen einer „fachgruppentypischen Leistung“ eine Praxisbesonderheit bestehen kann (Az: S 11 KA 414/10). Damit hat das Gericht dem restriktiven Vorgehen vieler KVen eine Absage erteilt, die Anträge auf Praxisbesonderheiten schematisch unter Verweis auf aktuelle Rechtsprechung des Bundessozialgerichts mit dem Argument zurückgewiesen haben, es handele sich um „fachgruppentypische“ Leistungen. 

Das Bundessozialgericht hatte in mehreren Urteilen am 29. Juni 2010 (Az: B 6 KA 17/10 R u. a.) unter anderem festgestellt, dass es zur Begründung einer versorgungsrelevanten Besonderheit nicht genügt, lediglich ein „Mehr“ an fachgruppentypischen Leistungen zu erbringen. Die Überschreitung des RLV müsse vielmehr darauf beruhen, dass in besonderem Maße spezielle Leistungen erbracht werden. Dabei werde es sich typischerweise um arztgruppenübergreifend erbrachte spezielle Leistungen handeln. 

Der Fall

Im Urteilsfall ging es um eine Ärztin, die eine „Doppelzulassung“ als Kinderärztin und Humangenetikerin besitzt. Sie beantragte die Erhöhung des RLV 1/09 und 2/09 aufgrund einer bestehenden Praxisbesonderheit im Rahmen der Syndromdiagnostik bei Kindern. Neben ihr gebe es in Hessen nur eine weitere Praxis, die das gesamte Leistungsspektrum (klinische Genetik, Zytogenetik, Molekulargenetik, genetische Beratung) anbieten würde. Insbesondere molekulargenetische Untersuchungen würden die anderen humangenetischen Praxen nur in sehr geringem Umfang erbringen, zumal dort auch kein DNA-Sequenzierungsgerät vorhanden sei. 

Die KV Hessen lehnte die Anträge ab. Zwar werde der Fallwert der Fachgruppe um mehr als 30 Prozent überschritten. Es handele sich aber um „fachgruppentypische“ Leistungen bei der Gruppe der Humangenetiker, sodass kein besonderer Versorgungsbedarf gegeben sei. 

Die Entscheidung

Das SG Marburg entschied zugunsten der Ärztin: Nach Überzeugung des Gerichts steht fest, dass vorliegend besondere Gründe der Sicherstellung gegeben sind, es sich sogar um ein „Paradebeispiel“ für einen besonderen Versorgungs- und Sicherstellungsauftrag handelt. Der KV sei zuzustimmen, dass die betreffenden Ziffern 11312 sowie 11320 bis 11322 EBM fachgruppentypische Leistungen des Kapitels Humangenetik seien. Dies allein erlaube aber nach der BSG-Rechtsprechung nicht zwingend den Rückschluss, dass keine Praxisbesonderheit vorliegen könne. 

Die Ausweisung der Leistungen im EBM sei nur ein Indiz. Ausnahmsweise können jedoch auch fachgruppentypische Leistungen eine Praxisbesonderheit begründen. Die Praxisbesonderheit im vorliegenden Fall werde unter anderem dadurch dokumentiert, dass 

  • hochspezialisierte Leistungen erbracht werden, die eine besondere Praxisausstattung erfordern,
  • die Fachgruppe relativ klein war (7 Ärzte) und eine Bewertung der „Fachgruppentypik“ daher nur relativ möglich sei,
  • die speziellen Leistungen nur von sehr wenigen Ärzten angeboten werden,
  • die Ärztin nur auf Überweisung tätig wird und
  • vorher stets Sonderregelungen genehmigt wurden.

Praxishinweis

Das SG Marburg stellt – im Sinne der BSG-Rechtsprechung – klar, dass nicht jede Spezialisierung eine Praxisbesonderheit begründet. Entgegen der Argumentation vieler KVen ist aber sehr wohl denkbar, dass auch bei fachgruppentypischen Leistungen eine Praxisbesonderheit besteht. Maßgeblich sind jeweils die Umstände des Einzelfalls. Aus der Praxis sind trotz der „Fachgruppentypik“ zum Beispiel Sonderregelungen bekannt für Radiologen, die in hohem Maße CT-Interventionsleistungen erbringen. Betroffene Ärzte sollten daher entsprechende Anträge stellen und die Praxisbesonderheit darlegen.