Interpretation einer winzigen Aufhellung in der Lunge als befundfrei ist kein Arztfehler

von RA, FA für MedizinR Philip Christmann, Berlin/Heidelberg, www.christmann-law.de

Zeigt sich bei einer Röntgenuntersuchung der Lunge nur eine winzige Aufhellung in einem Lungenflügel, so kann die Diagnose „ohne Befund“ nicht ohne Weiteres als dem Arzt vorwerfbarer Diagnosefehler angesehen werden. Es kann sich auch um einen Diagnoseirrtum handeln, der nicht zu einer Arzthaftung führt. Die Beweislast für einen vorwerfbaren Diagnosefehler liegt beim Patienten (Oberlandesgericht Koblenz, Beschluss vom 20.02.2017, Az. 5 U 1349/16 ).

Der Fall

Eine Frau, die in der Vergangenheit bereits an Brustkrebs erkrankt war, wurde 2012 in der radiologischen Gemeinschaftspraxis der Beklagten an der Lunge geröntgt. Als Ergebnis wurde u.a. festgehalten, dass kein Befund hinsichtlich einer Lungenmetastase oder eines Tumorrezidivs vorliege.

Wegen Brustschmerzen führten die Beklagten 2014 erneut eine Röntgenuntersuchung der Frau durch – ebenfalls ohne Befund. Wegen anhaltender Schmerzen führten die Beklagten kurze Zeit später eine CT-Untersuchung durch, diagnostizierten eine Raumforderung und empfahlen die Vornahme einer Biopsie.

Die Klägerin gab an, die Raumforderung habe sich als Karzinom herausgestellt, die schon früher hätte erkannt werden müssen. Die weitere Behandlung des Karzinoms, das schließlich entfernt wurde, habe sich verzögert. Sie verlangte Schmerzensgeld. Das Gericht verneinte einen Fehler der Radiologen.

Die Entscheidungsgründe

Der gerichtlich bestellte Sachverständige erklärte: Die Röntgenaufnahmen aus 2012 ließen aus damaliger Sicht einen Tumor nicht in einer Weise erkennen, die bei einem Übersehen Vorwürfe gegenüber dem befundenden Arzt eröffnen würde. Die winzige Aufhellung auf der linken Seite könne nur unter Berücksichtigung der später gewonnenen Erkenntnisse zum Vorliegen eines tumorösen Geschehens bereits als entsprechender Hinweis eingeordnet werden. Der Sachverständige wies in diesem Zusammenhang auf die wissenschaftlich belegte Häufigkeit des Übersehens von Bronchialkarzinomen auf Thoraxübersichtsaufnahmen hin, deren Ursachen komplex und multifaktoriell zu beurteilen seien.

Dementsprechend war das OLG der Ansicht, dass ein Diagnoseirrtum, der auf die Fehlinterpretation eines Befunds zurückzuführen ist, nur mit Zurückhaltung als Behandlungsfehler gewertet werden könne. Eine Einstandspflicht sei daher nicht gegeben, wenn sich die fehlerhafte Diagnose als in der gegebenen Situation vertretbare Deutung der Befunde darstellt. Dabei sei auf die Sicht des Arztes zum Zeitpunkt der Diagnosestellung abzustellen.

Folgen für die Praxis

Die Gerichte sind sehr zurückhaltend mit der Annahme eines (zur Haftung des Arztes führenden) Diagnosefehlers. Denn medizinische Befunde und Daten lassen oftmals eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten zu. Fehlinterpretationen sind möglich. Solange die Diagnose des Arztes noch vertretbar ist, liegt kein Diagnosefehler, sondern lediglich ein nicht vorwerfbarer Diagnoseirrtum vor.

Ein Diagnosefehler ist dagegen gegeben, wenn die Diagnose des Arztes in der gegebenen Situation schlicht nicht mehr vertretbar war. Das ist der Fall, wenn sich die Diagnose als nicht mehr vertretbare Deutung der Befunde darstellt oder wenn der Arzt Befunde nicht berücksichtigt. In der Regel liegen Diagnosefehler nur beim Übersehen eindeutiger Befunde oder sogenannter klassischer Krankheitsbilder vor. Die Beweislast dafür liegt beim Patienten.

Trotz der für ihn günstigen Beweislastverteilung ist dem betroffenen Arzt zu raten, seine Erwägungen, die zu der jeweiligen Diagnose geführt haben, zumindest in Stichworten zu dokumentieren. Dies macht es dem vom Gericht bestellten Sachverständigen einfacher, die Gedankengänge des behandelnden Arztes nachzuzeichnen und noch für vertretbar zu halten.